Es ist bereits sieben Jahre her, doch heute noch sehe ich sie vor mir: Eine kleine, ältere Dame, sie steht ganz allein an der Reling des Schiffes, das uns entlang Norwegens Küste gen Norden bringt, bis am Nordkap die Reise wieder zurück nach Süden geht. Außer ihr und mir befindet sich niemand an Deck.
Es weht ein starker und kalter Wind, der ihr jedoch nichts auszumachen scheint. Dick eingepackt in eine beigefarbene Jacke, mit einer dunkelroten Mütze auf dem Kopf, schaut sie auf die vorbeiziehende Landschaft, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, fast wie ein Kind. Bei sich hat sie einen kleinen Hocker, auf den sie sich ab und zu setzt – um bloß keinen Moment dieses Erlebnisses zu verpassen. Fest in der Hand hält sie einen kleinen Fotoapparat, ein älteres Modell. Sie macht viele Aufnahmen.
Ob sie überhaupt jemand außer ihr zu sehen bekommt?
Ich stehe ein wenig hinter ihr und stelle mir vor: Ich stelle mir vor, wem sie diese Bilder zuhause zeigen wird. Ob sie überhaupt jemand außer ihr zu sehen bekommt? Ich frage mich, wie lange sie wohl für diese Reise gespart hat, welches Leben sie für diese nur kurze Zeitspanne hinter sich gelassen hat. Ob sie sich freut, wieder nachhause zu kommen. Ob es jemanden gibt, der auf sie wartet.
Ich denke mir, ob auch ich später solche eindrucksvollen Reisen noch werde erleben können – Reisen, die sich wie Mosaiksteine zu einem großen Ganzen – zu einem gelebten Leben – zusammensetzen.
Plötzlich fegt eine Windböe der kleinen Dame fast die Mütze vom Kopf. Doch sie ist schnell, hält sie fest. Dieser Moment reißt mich aus meinen Gedanken.
Absolute Präsenz
Und da wird mir klar: All meine Fragen, die ich mir stelle, haben in diesem Moment überhaupt keine Bedeutung für die kleine Dame. Sie befindet sich in einem einzigartigen Zustand: Absolute Präsenz, Gedankenlosigkeit, Glück und Begeisterung. Sie lebt im Jetzt, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.
Nach dieser Begegnung, die genau genommen gar keine war, steht eines für mich fest: Dass es im Leben auch darum geht, diese Momente zu suchen. In der wir wieder Kind sind und alles zum ersten Mal sehen und erleben. Und dass man diese Momente vor allem auf Reisen für sich finden kann.
